VON OLIVER GRISS

Noch immer klingt mir die Frage eines bekannten Sportchefs einer großen deutschen Tageszeitung an Ex-Nationalspieler Mehmt Scholl nach dem alles anderen als überzeugendem 4:2 gegen Portugal im Ohr: “Mehmet, werden wir jetzt Europameister?” Selten so gelacht…

Genau diese ständigen weichgespülten Fehleinschätzungen im Umfeld, das ständige Pudern der Protagonisten (nur nicht kritisieren, sonst bekommt man keine Infos mehr!) - und vor allem das jahrelange Aussitzen der Probleme im DFB sorgen dafür, dass der deutsche Fußball seine große Zeiten endgültig hinter sich hat. Mit “höggschder” Arroganz wurde alles weggelächelt. Das Marketing und die Außendarstellung von #DieMannschaft ist heutzutage wichtiger als die Sach- und Basisarbeit. Es geht nur noch um Macht und Eitelkeiten.

Der deutsche Fußball ist - wenn überhaupt - nur noch zweitklassig. Und das nicht erst seit dem hochverdienten Achtelfinal-Aus gegen England. Einschläfernd, statisch und wenig innovativ und flexibel präsentiert sich die Nationalmannschaft seit Jahren. Die schlimme 0:6-Blamage gegen Spanien im Herbst 2020 oder die 1:2-Pleite in der WM-Qualifikation gegen Nordmazedonien Ende März waren eigentlich Warnsignale genug, dass der gefallene Weltmeister von 2014 zum Scheitern bei dieser Europameisterschaft verurteilt war. Für mich war es eine Überraschung, dass Deutschland die sogenannte “Todesgruppe” überhaupt überstanden hat. Das EM-Aus ist die Strafe für kollektive Stümperei auf allen wichtigen Positionen. Dazu gehört auch das hilflose Festhalten an Weltmeister-Trainer Jogi Löw.

Das Durchmogeln muss Geschichte sein! Der deutsche Fußball braucht schleunigst eine Generalüberholung mit einem fußball-affinen Präsidenten - vor allem sollte trotz des jüngsten EM-Titels der U21 auch die Nachwuchsarbeit endlich hinterfragt werden. Die Nachwuchsleistungszentren bringen kaum noch Typen mit Ecken und Kanten heraus. Es ist keine Persönlichkeitsentwicklung möglich, weil es auch nicht gewollt ist.

Das Problem: Wenn einer aneckt, fliegt er - dabei verträgt jede Manschaft zwei bis drei “Drecksäcke”. Die große Leidenschaft und Kampfbereitschaft, die uns über Jahrzehnte ausgezeichnet hat, ist verflogen. Heutzutage ist es wichtiger, den eigenen Instagram-Kanal zu pushen oder die Haare schön zu haben, anstatt einen Flugball auf 40 Meter spielen zu können. Zudem ist die Kritikfähigkeit dieser Figuren bis auf den Nullpunkt gesunken. Für Oliver Bierhoff oder auch Toni Kroos ist es eine Majestätsbeleidigung, wenn man sie hinterfragt. Interviews werden heutzutage von Medienabteilungen und Beratern überarbeitet - der Inhalt hinterher: Kaum noch lesenswert. Selbst in der Dritten Liga werden diese Praktiken schon angewendet. Man eifert den großen Vorbildern nach. Mit Jürgen Klinsmann ging’s los.

Die unglücklich ausgeschiedenen Österreicher und die Schweizer haben mich im Achtelfinale begeistert. Die deutsche Nationalmannschaft langweilt mich - und das schon seit Jahren…