VON OLIVER GRISS

Es war einmal ein großer stolzer deutscher Traditionsverein…

Die Gegenwart: Der TSV 1860 ist im März 2023 eine bemitleidenswerte und schwer beschädigte Fußball-Marke - der Auslöser: Die Entlassung von Cheftrainer Michael Köllner vor genau einem Monat. Nichts ist mehr wie vorher.

Der Klub hat tatsächlich rekordverdächtige 27 Tage von der Beurlaubung bis zur Präsentation von Nachfolger Maurizio Jacobacci gebraucht. In dieser Zeit wurde nur äußerst mager gepunktet: Vier Spiele, zwei Pünktchen - und viele viele strategische selbstverursachte Fehler, die jetzt langsam an die Öffentlichkeit geraten.

Am Mittwochnachmittag meldete sich nach selbst verhängter einmonatiger Kommunikationspause Mehrheitsgesellschafter Hasan Ismaik zu Wort und erklärte, dass er die Köllner-Entlassung über seine “Twitter-Timeline” erfahren hat. Damit bestätigte der Jordanier, was längst bekannt war: Ismaik bzw. seine Statthalter waren in die Beurlaubung nicht involviert. Eine gute Zusammenarbeit funktioniert definitiv anders.

Vor Ismaiks Post hatte bereits der Aufsichtsratsvorsitzende Saki Stimoniaris etwas zurecht gerückt, was in den Medien anders dargestellt worden ist: “Anders als öffentlich kolportiert, wurde dem Aufsichtsrat auch nicht eine Strategie für die Neubesetzung der Trainerposition unmittelbar nach der Entbindung von Michael Köllner vorgestellt. Dafür wäre der Aufsichtsrat auch gar nicht zuständig. Der Aufsichtsrat ist lediglich für die Freigabe einer eventuell notwendigen Budgeterhöhung zuständig. Die Geschäftsführung hat beim Aufsichtsrat nach mehreren Wochen einen Antrag auf Budgeterhöhung für die Einstellung eines neuen Trainers gestellt.”

Die Version des Muttervereins hört sich freilich etwas anders an. Am Sonntag schrieben Präsident Robert Reisinger & Co. unter dem Titel “Prozess der Neubesetzung”: “Als Vereinsvertreter vertreten wir die Grundwerte unserer Corporate Governance. Der Aufsichtsrat der TSV München von 1860 GmbH & Co. KGaA überwacht den wirtschaftlichen Rahmen, innerhalb dessen Profifußball beim TSV 1860 München stattfindet, nimmt aber nicht am Alltagsgeschäft teil. Sportliche Einzelfallentscheidungen wie die Auswahl geeigneter Spieler oder Trainer sollten nicht Gegenstand von Aufsichtsratsdebatten sein, sondern fallen in die Verantwortung der dafür eingesetzten Geschäftsführer. Sport Geschäftsführer Günther Gorenzel hat dem Aufsichtsrat seine Strategie für die Neubesetzung der Trainerposition unmittelbar nach der Entbindung von Michael Köllner vorgestellt. Dass sich die Entscheidung danach über einen Zeitraum von mehreren Wochen zog, lag nicht in unserer Verantwortung.” Und eine an die “SZ” durchgesteckte Email von Investoren-Vertreter Anthony Power an Gorenzel (“Sie müssen den Klub sofort verlassen!”) ist der Höhepunkt einer vogelwilden Löwen-Woche.

Am Ende will keiner für das Chaos an der Grünwalder Straße 114 verantwortlich sein - irgendwie typisch für diesen Klub und seine größtenteils überfordert wirkenden Funktionäre. All das, was man sich mühevoll in den letzten Jahren mit zwei starken Gesichtern (Daniel Bierofka/Michael Köllner) aufgebaut hat, wird von beiden Seiten wieder eingerissen. Die verflixte Kommunikation im Innen- und Außenverhältnis fällt den Löwen jetzt auf die Füße. Um die Situation wieder zu beruhigen, braucht es jetzt keine Worte mehr, sondern ausschließlich Siege. Zur Beruhigung der geschundenen Löwen-Seele.