VON OLIVER GRISS

Am Freitagmorgen bin ich im Internet über die lesenswerte Kolume “Fever Pit’ch” von Sport1-Boss Pit Gottschalk gestolpert - der frühere AZ-Reporter, der auch das erfolgreiche 1860 noch kennt, schreibt unter dem Titel “Scheinheilige Hertha” folgendes Statement: “Zu den wichtigsten Erkenntnissen, die ich in 30 Jahren Fußballgeschäft gewonnen habe, gehört diese hier: Ein Profiverein kann nur erfolgreich sein, wenn exakt drei Leute das Sagen haben - der Trainer, der Manager und der Chef vom Ganzen. Man kann hinschauen, wohin man will: Wann immer Leute mitreden, die entweder keine Ahnung haben oder keine Zurückhaltung kennen, wird’s gruselig. Kakofonie führt zwangsläufig ins Chaos. Der Hamburger SV zum Beispiel kommt nicht zur Ruhe, weil der Aufsichtsrat nicht das tut, was im Namen steht: beaufsichtigen. Er will mitreden und -handeln, tauscht Leute aus, lässt Interna nach draußen dringen, schmiedet Konflikte. Dabei ist die Mannschaft auf dem besten Weg, in die Bundesliga zurückzukehren. Was also soll der Streit an der Vereinsspitze? Worin liegt der Zweck? Eben, im Machterhalt. Hat das mit Fußball zu tun? Wohl kaum. Eher mit Eitelkeiten. Es ist deshalb kein Zufall, dass eher beschauliche Vereine wie Union Berlin oder SC Freiburg an der Bundesliga-Spitze stehen und nicht Hertha BSC oder VfB Stuttgart. Zu viele Köche verderben den Brei. Gerade bei Hertha weiß man nicht, wohin die Reise führt. Ist Präsident Kay Bernstein derjenige, der alle im Klub zurück in eine Richtung schubst? Zumindest hat er einen gemeinsamen Gegner ausgemacht: Ex-Manager Fredi Bobic. Ich als Journalist kann mit ständigen Reibereien in den Bundesliga-Vereinen sehr gut leben. Schließlich sind dann Schlagzeilen garantiert. Wer aber seinen Verein wirklich liebt, kann und darf so nicht denken und handeln.”

Man könnte diese treffenden Sätze auch 1:1 für den TSV 1860 anwenden, wobei es für den Münchner Traditionsverein nicht um den Bundesliga-Aufstieg geht, sondern bestenfalls um die Rückkehr in die Zweite Liga. Sollte man zumindest meinen.

Die Löwen, die so gern ein kleiner gmiadlicher Stadtteilverein wären, gleichen in diesen Tagen wieder einmal einem Chaosklub. Mehr als sechs Millionen Euro wurden von der Saison in den Kader gepumpt, um ihn aufstiegsfähig zu machen. Doch zuletzt hat Präsident Robert Reisinger via “BILD” höchstselbst den Aufstiegskampf abgeblasen - und das bei nur fünf Punkten Rückstand auf den Relegationsplatz. Wohlgemerkt bei noch 16 ausstehenden Spielen. In der Branche regiert das Kopfschütteln - und das auch, weil 18 Tage nach dem Köllner-Aus noch immer kein Trainer verpflichtet worden ist. Jetzt kann man natürlich auf Mehrheitsgesellschafter Hasan Ismaik mit dem Finger zeigen und behaupten, er blockiere den Verein, weil er kein neues Budget freigeben will. Der Mehrheitsgesellschafter aus Abu Dhabi ist in den letzten fünfeinhalb Jahren ziemlich alles mitgegangen und das ausgesprochen geräuschlos.

Doch der neueste Machtkampf im Aufsichtsrat, in dem sogar ein Funktionär sitzt, der zu Zweitliga-Zeiten stolz ein Anti-Ismaik-Plakat auf der Tribüne hochgehalten hatte, hat natürlich auch seinen Ursprung: Der Jordanier Ismaik, der Michael Köllners Einsatz für 1860 auch außerhalb des Rasens besonders geschätzt hatte, wurde bei der Trainer-Entlassung von der Geschäftsführung übergangen und vor vollendete Tatsachen gestellt - wohlwissend, dass die Fußballfirma ihr abgesegnetes Budget schon ausgeschöpft hatte. Deswegen ist es absolut nachzuvollziehen, dass die Ismaik-Seite jetzt nicht in Jubel ausbricht. Zumal die Erstellung der Short- und Longlist mit den Trainerkandidaten von Günther Gorenzel keine große Tat ist und keiner großen Qualifikation bedarf, sondern eher an ein liebloses Online-Casting erinnert. Ein Löwen-Fan hatte mir kurz nach der Spiegelung der Namen geschrieben: “Diese Liste hätte auch mein sechsjähriger Sohn mit Hilfe von Transfermarkt.de zusammengestellt.” Ich konnte leider nicht widersprechen.

Der e.V. hatte sich aus dieser Gorenzels Hitliste den früheren Regensburg-Trainer Achim Beierlorzer ausgeguckt - HAM hielt mit Löwen-Held Peter Nowak (er lebt in den USA) und dem eher unbekannten Maurizo Jacobacci dagegen. In seiner Heimat hat der 60-Jährige bereits vier Aufstiege gefeiert, spielte mit dem FC Lugano in der Euro League. Die beiden letzteren sind keine Top-Lösungen, die den TSV 1860 schmücken, aber gut. Nach db24-Informationen wäre die Ismaik-Seite in der virtuellen Marathon-Sitzung am Donnerstagabend aber bereit gewesen, bei Beierlorzer grünes Licht zu geben - allerdings unter einer Voraussetzung: Sport-Geschäftsführer Günther Gorenzel muss sofort gehen! Was interessant zu diesem Aspekt ist: Vor einiger Zeit soll Michael Köllner nach db24-Informationen von der e.V.-Seite gefragt worden sein, ob er sich eine Doppelfunktion als Trainer und Manager vorstellen könne - was wiederum auch zeigt, dass man von Gorenzels Qualitäten nicht mehr zu 100 Prozent überzeugt ist. Noch im Trainingslager in Belek wurde sogar mit Köllner über eine vorzeitige Vertragsverlängerung gesprochen - von HAM saß übrigens keiner am Tisch beim Edel-Japaner in Belek. Und was macht 1860? Wenige Tage später setzte sich der Österreicher Gorenzel selbst auf die Bank und spielt seitdem den Trainer. Auch gegen Verl ist er für die Mannschaft verantwortlich.

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Und so geht der Giesinger Zirkus munter weiter - solange bis der TSV 1860 endgültig wieder eine Saison weggeworfen hat und damit riskiert, dass der Verein weiter schrumpft. Und dann werden wieder die Fans angebettelt, Dauerkarten zu kaufen und die Löwen zu unterstützen. Wie lange machen die das aber noch mit? Viele distanzieren sich immer mehr von ihrem Herzensverein - und Geschäftsführer Marc Pfeifer wird dieses Mitgefühl und Mitleid vermutlich auch am Aschermittwoch spüren, wenn er beim traditionellen Geldbeutelwaschen am Fischbrunnen auf Münchens OB Dieter Reiter und Sponsor Hacker-Pschorr trifft. 1860, einst ruhmreich in Fußball-Deutschland, schafft sich ab - nur der Verein weiß es noch nicht…

Es ist wahrlich eine Schande, was sich derzeit an der Grünwalder Straße 114 abspielt. Wenn die Löwen-Bosse etwas Feingefühl und vor allem Fußball-Verstand hätten, würden sie in die Mannschaft reinhorchen, wie es wirklich um Lex, Bär & Co. bestellt ist. Die Spieler schleichen seit Tagen über den Trainingsplatz, die Körpersprache ist desillusioniert - keine guten Voraussetzungen für eine Aufholjagd in der Dritten Liga, wiil der Verein mit seinen antizyklischen Handlungen den Spielern ein Alibi gibt, anstatt wie ein Profi-Klub zu handeln.

Die Bosse werden sich denken: Was zählt der Erfolg der Profi-Mannschaft in diesem Moment, wenn’s um den eigenen Machterhalt geht. Armes Sechzig!