VON OLIVER GRISS

Freilich, ich habe mir alle 24 veröffentlichten Steckbriefe der VR-Kandidaten, die für ein besseres Sechzig sorgen wollen, aufmerksam durchgelesen. Darunter u.a. die der Herren Lutz, Gräfer, Mang, Stimoniaris und Hirschberger, die allesamt außerhalb der Giesinger Volksbühne bewiesen haben, dass sie erfolgreich auf hoher Ebene arbeiten können. Beim tief gefallenen Traditionsklub 1860 München könnten neue Kräfte angesichts des sportlichen und wirtschaftlichen Elends nicht schaden. Auch wenn es Präsident Robert Reisinger möglicherweise nicht gerne hört: Genau deswegen ist einer wie Lutz prädestiniert für den Verwaltungsrat - eine Rolle im Aufsichtsrat ohne Gestaltungsmöglichkeit und Mitspracherecht, bringt Lutz eher wenig. Er ist einer, der anpackt.

Über ein Profil bin ich beim Schmökern der Steckbriefe besonders gestolpert - das von Nicolai Walch, seines Zeichens Verwaltungsrat und Beirat. Nebenbei vertritt der 41-Jährige den TSV 1860 auch noch in der ein oder anderen Angelegenheit ehrenamtlich als Anwalt. Walch, der in zwei wichtigen Gremien des Klubs vertreten ist, steht exemplarisch für den Giesinger “Erfolgskurs”.

Walch schreibt: “Meine Triebfeder ist die Optimalvorstellung einer Rückgängigmachung der überbordenden Kommerzialisierung des Fußballs, jedenfalls aber die Sicherung des Status Quo, nämlich Erhaltung der 50+1-Regelung im Allgemeinen und Erhalt des Status des mitgliederbestimmten e.V. als Alleingesellschafter der TSV München von 1860 Geschäftsführungs-GmbH im Besonderen. In diesem Zusammenhang muss bei elementaren Entscheidungen, z.B. über die Stadionfrage, stets die Mitgliederversammlung das letzte Wort haben.”

Gleichzeitig schreibt Walch in seinem lesenswerten Steckbrief auch, dass er sich für die englische Fußballkultur interessiere. Falls es der Volljurist nicht wissen sollte: 13 von 20 Premier League-Klubs haben inzwischen einen Investor oder Inhaber. Auch der englische Zweitligist FC Millwall, der Klub der Arbeiter und Hooligans, ist übrigens nicht mitglieder-geführt, sondern im Besitz der amerikanischen Familie Berylson. Auf der britischen Insel ist es aber anders als in Deutschland: Die Geldgeber werden als Freunde und Partner gesehen, toleriert und respektiert - nicht als Gegner abgekanzelt. Das ist der große Unterschied vom Mutterland des Fußballs zum altbackenen (angsterregenden) System in Deutschland.

Und Walch schreibt trotz seiner verkrusteten Sichtweise überraschenderweise: “Bei alldem verbleibt es bei meinem Traum, die Löwen irgendwann wieder auswärts in Europa begleiten dürfen.”

Wohlgemerkt: Der TSV steht aktuell auf Platz 14 - in der Dritten Liga. Anzeichen, dass Walch spitzfindige Ideen für einen sportlichen und wirtschaftlichen Aufschwung unter seinen Gleichgesinnten im Koffer hat, gibt es offenbar nicht.

Aber wir haben einen exklusiven Tipp für ihn: Kommenden Juni kann Walch nach Europa aufbrechen - ins Trainingslager nach Windischgarsten/Oberösterreich. Es soll auch ein Testspiel gegen den französischen Erstligisten Racing Straßburg geplant sei. Mit West Ham United, Leeds, Parma, Wien, Drnovice oder Halmstad hat das freilich relativ wenig zu tun.

Natürlich gibt es bei Investoren immer Negativ-Beispiele, aber wenn man es sich zur Lebensaufgabe macht, Investoren als Gegner zu sehen, wird sich Europa für 1860 eher in Illertissen, Kirchanschöring oder Pipinsried abspielen. Mit Sicherheit wird es für diese Highlights immer Tickets geben, sogar ohne Vorbestellung.

Oliver Griss (52) berichtet seit über 35 Jahren über die Löwen und hat den Weg von den Bayernliga-Tiefen bis in die Champions League-Qualifikation aus nächster Nähe begleitet, u.a. 12 Jahre für die Abendzeitung München.