VON PIT GOTTSCHALK

Vielleicht habe ich Sechzig nie richtig verstanden. Aber ich habe zwei Jahre lang, in einer entscheidenden Phase des Vereins, als junger Reporter über den TSV 1860 München geschrieben. Die gemeinsame Zeit begann mit Trainer Karsten Wettberg und Präsidentin Lilo Knecht beim Abrutsch in die Bayernliga und endete mit dem Bundesliga-Aufstieg unter Trainer Werner Lorant und Präsident Karl-Heinz Wildmoser. Löwenfans wissen: von 1992 bis 1994.

Seitdem werde ich jedesmal sehr sentimental, wenn das Gespräch auf Sechzig kommt oder 1860 in den Schlagzeilen steht. Mir hat man damals bei der Abendzeitung eingetrichtert: Die Roten vom FC Bayern mögen landesweit mehr Fans haben - aber wir hier in München, wir halten alle zu den Blauen. Bei einer Tageszeitung konnte man das gesteigerte Interesse für Blau oder Rot nicht so messen wie heute im Internetzeitalter. Ob’s wirklich so war? Keine Ahnung.

Aber es war schon auffällig, dass Uli Hoeneß, seinerzeit Bayern-Manager, vorteilhafte Löwen-Artikel sofort hinterfragte. Er wusste, dass sein Verein größer war, sicherlich mächtiger und finanzkräftiger. Aber 1860, das war wie ein Splitter im Arm: nicht wirklich gefährlich, aber verdammt lästig und auf Dauer hinderlich. Genau so habe ich 1860 in meiner ersten Münchner Zeit erlebt. Die Sechziger waren da und verschwanden auch nicht. Egal wo sie spielten.

Mich wundert es deswegen nicht, dass der TSV 1860 in der Traum-Bundesliga auftaucht, wo Fußballfans aus ganz Deutschland ihre 18 Klubs nennen durften, die sie am liebsten in der ersten Liga sehen wollen. Das erste Argument: als Gegenstück zu den Roten; die ärgert man grundsätzlich gerne. Das Zweite: 1860 München ist das ewige Versprechen auf bessere Zeiten, wie sie jeder erhofft, der im Alltag schwer zu tragen hat. In München genauso wie anderswo.

Sechzig weckt Träume und Sehnsüchte und will zu den Sternen greifen, jedoch immer mit beiden Füßen am Boden. Freilich will man Bundesliga spielen, aber bitte im heillos veralteten Grünwalder Stadion. Eigentlich ein Widerspruch. Bei Sechzig wollen sie den Widerspruch auflösen, verweisen auf die lange Tradition, die großen Spieler, die man hervorgebracht hat, auf die Nahbarkeit im Löwenstüberl oder im Trainingslager. Das ist 1860: ein Verein zum Anfassen. Heute noch.

Davon hat man nicht viele; und vielleicht sogar aus gutem Grund. Die Professionalisierung im Management und in der Infrastruktur und damit auch das Stück Distanz, die Fans und Presse gleichermaßen hassen, sind oftmals Grundvoraussetzung für Erfolg im bezahlten Fußball. Siehe SC Freiburg: klein und versteckt im untersten Winkel der Republik, aber gewaltig vertreten in der DFL und inzwischen mit einem nagelneuen Stadion ausgestattet. So läuft das im Breisgau.

Bei 1860 muss sich der Trainer vom Präsidenten belehren lassen, was er sagen darf und was nicht, die Ortspresse dankt mit fetten Überschriften, und im Wirtshaus und Biergarten gibt jeder seinen Senf oben drauf. Aufstieg verpasst? Dann halt nächstes Jahr, auf geht’s! So bleibt 1860 tatsächlich ein ewiges Versprechen, eine Träumerei, eine Jugendliebe, die einem nicht aus dem Sinn geht, obwohl man längst anderweitig verheiratet ist und zwei Kinder hat.

Und wenn ein Investor daherkommt und mit Kleingeld die Erfüllung von Träumen in Aussicht stellt, dann ist man aus Nostalgie oder Wunschdenken durchaus empfänglich für die frohe Botschaft. Schon Wildmoser verstand das Spiel mit der Vereinsseele vortrefflich, bevor ihn der Größenwahn heimsuchte und er mit Bayern beim Stadion paktierte. Er musste es damals liefern, das ewige Versprechen auf bessere Zeiten. Aber vielleicht verstehe ich 1860 auch nicht richtig.

Was ich aber weiß: 1860 ist als Gründungsmitglied der Bundesliga so einzigartig, dass nicht nur Löwenfans wollen, dass dieser wunderbare Verein, so schrullig und altbacken er wirkt, wieder erstklassig spielt. Eben weil er unverwechselbar ist und nicht glattgebügelt, eben weil er sich der Arenisierung des deutschen Profifußballs widersetzt, eben weil krachend scheitert und niemals lauwarm. So wie 1860 ist halt das Leben: kein Ponyhof.

Pit Gottschalk (53) ist Chefredakteur von Sport1 und gleichzeitig in der Geschäftsführung. Der gebürtige Aachener gehört zu den besten Sportjournalisten des Landes, arbeitete zuvor u.a. als Chefredakteur für die Sport Bild und Sportchef bei Welt und Welt am Sonntag. Zwischen 1992 und 1994 arbeitete er für Münchens einstiges Lieblingsblatt “Die Abendzeitung”.